- familienplanung.de
- Schwangerschaft & Geburt
- Ein Kind verlieren
- Interview: Hilfe beim Abschied
Interview: Wärme und Geborgenheit zum Abschied
Annegret Braun hat als Kinderkrankenschwester und Seelsorgerin jahrzehntelang Erfahrungen mit der Begleitung von Kindern gesammelt, die nicht oder nicht lange leben konnten. Bis zu ihrem Ruhestand 2012 leitete sie die Beratungsstelle zu Pränatalen Untersuchungen und Aufklärung (PUA) in Stuttgart. Die Journalistin und Hebamme Katja Baumgarten hat das folgende Gespräch mit ihr während ihrer aktiven Zeit geführt.
Wenn Eltern für ihr Kind die Diagnose „nicht lebensfähig“ bekommen haben, können sie sich an eine Beratungsstelle wenden. Was finden sie dort?
Eltern brauchen in dieser Situation erfahrene Menschen an ihrer Seite. Die Eltern haben mit Recht Angst vor der unbekannten Situation und sollten sich mit Hilfe von Beraterinnen und Beratern stärken und orientieren können. Es ist zum Beispiel wichtig, genau zu klären, wer zur Unterstützung in Frage kommt. In einer Beratungsstelle kann man ihnen helfen, ein Team von Helferinnen und Helfern vor Ort zusammenzustellen: eine Hebamme, eine Kinderärztin oder einen Kinderarzt, eine Kinderkrankenschwester, vielleicht jemanden aus einer Kirchengemeinde oder psychologische Unterstützung. Verschiedene Aufgaben werden am besten auf mehrere Menschen verteilt.
Wie können sich Eltern auf die besondere Geburt vorbereiten?
Wenn ein Kind bald sterben wird, entwickelt sich neben der Ohnmacht und Angst der Eltern auch ihr Bedürfnis nach Aktion: „Ich will für dieses Kind noch alles gut machen.“ Als Beraterinnen und Berater suchen wir mit ihnen nach Wegen, damit sie dem Schrecken und der Katastrophe nicht nur hilflos ausgeliefert sind, sondern wieder ins Zwiegespräch mit ihrem Kind kommen und die verbleibende gemeinsame Zeit sinnvoll nutzen können. Wir gehen auch auf ihre Angst vor dem Tod ein und davor, wie das Kind aussehen wird.
Bei der Geburt eines Kindes mit einer äußeren Fehlbildung hilft es manchen Eltern, wenn wir vorher absprechen, dass die Hebamme oder eine andere Begleitperson ihr Kind erst einmal ohne sie anschaut. Sie zieht es an und schildert den Eltern die Fehlbildung, bevor sie das Kind gemeinsam anschauen. Vielleicht ziehen sie das Kind dann vorsichtig miteinander aus oder wickeln es aus seinem Tuch und betrachten es genau. Durch dieses Herantasten nähern sich die Eltern langsam dem, was ihnen ungewohnt ist. Die meisten Menschen haben noch nie ein so kleines Kind gesehen. Wenn die Kinder gestorben sind, sehen sie oft sehr ruhig und wie schlafend aus – man hat das Gefühl, sie sind gar nicht tot, wenn sie so entspannt daliegen.
Gibt es eine heilsame Art, mit dem Tod umzugehen?
Die Erlebnisse der Eltern bei der Geburt ihres Kindes sind wichtig für ihren Weg danach. Bei allem, was die Eltern tun können, findet ihre Liebe zum Kind einen sichtbaren Ausdruck. Es steht dadurch nicht nur der erschreckende Tod im Vordergrund. Für manche Eltern ist eine Nottaufe für ihr Kind wichtig und hilfreich. Wenn sie vorher schon wissen, dass das Kind nicht leben wird, kann vor der Geburt auch schon über die Bestattung nachgedacht werden, auch wenn es ein ganz kleines Kind ist. Es kann im Familiengrab bestattet werden, oder es bekommt ein eigenes Kindergrab.
Wie können Geschwisterkinder in den Abschied vom Kind einbezogen werden?
Die Sorge, wie die Geschwister reagieren und ob das Erlebnis sie zu sehr belastet, ist meist unbegründet. Es sollte allerdings jemand dabei sein, der die Kinder liebevoll begleitet. Einmal hatte ich ein unvergessliches Erlebnis mit einer Familie: Die Eltern wussten, dass ihr Kind mit einer Chromosomenstörung und einer schweren Fehlbildung geboren werden würde. Die Ungewissheit, wie das Kind aussehen würde, erschwerte die Situation. Als es zur Welt kam, konnten die Eltern es sehr gut aufnehmen. Sie waren aber unsicher, wie die Geschwister den Anblick empfinden würden. Die drei Schwestern guckten gemeinsam mit mir vorsichtig zu ihrem kleinen Bruder. Ich habe ihnen erklärt: „Im Bauch ging es eurem Bruder gut, weil man dort nicht atmen muss. Hören konnte er euch, das seht ihr – er hat Ohren. Aber jetzt kann er nicht mehr leben, weil er keine Nase hat, die er zum Atmen braucht.“ Als ich ihnen das so erklärte, erschien es ihnen logisch.
Der kleine Junge war sehr schön angezogen. Man gewöhnt sich eigenartigerweise recht schnell an den ungewöhnlichen Anblick eines Kindes. Nach zwei, drei Stunden haben die Kinder sich verabschiedet. Das älteste, etwa sechsjährige Mädchen sagte zu seiner Mutter überraschend zum Abschied: „Nicht wahr, unser Brüderchen ist doch wunderschön!“
Wie kann man einem sterbenden Kind helfen? Viele belastet die Sorge, es könnte leiden.
Wenn Kinder auf dem Wege zum Sterben sind, leiden sie nicht in dem Sinn, wie wir das kennen. Sie sind im Sterben „wie auf einer Reise“, sie sind schon viel weiter weg. Anstatt die Anzeichen des Sterbens negativ zu deuten, kann man erkennen: „Es geht seinen Weg“. Mir kommt dabei oft meine Erfahrung als Kinderkrankenschwester zugute, dass ich schon sehr viele Kinder habe „gehen“ sehen – und jedes Erlebnis einzigartig war.
Hin und wieder gibt es besondere Situationen, in denen so ein kleines Kind wirklich Schmerzen erleidet. Dann muss man sie medikamentös lindern. Wenn ein Kind beispielsweise mit schweren Fehlbildungen und kaum lebensfähig zur Welt gekommen ist, gibt man ihm vor einer notwendigen pflegerischen Maßnahme ein Schmerzmittel. Man geht dann besonders behutsam mit diesem Kind um. Aber eigentlich leiden sterbende Kinder selten. Wir selbst haben oft Angst, dass ihnen alles weh tut. Wenn man Sterben und Tod aber nur mit Schmerz verbindet, ist das möglicherweise auch Ausdruck der eigenen Ängste.
Was empfehlen Sie Eltern, deren Kind bald sterben wird?
Wenn die Eltern es möchten und die Bedingungen es erlauben, bin ich dafür, dass sterbende Kinder möglichst nach Hause zu ihrer Familie kommen. Weil es da mehr Ruhe und Privatsphäre gibt als in der Klinik. Aber auch in der Klinik sollten die Bedürfnisse der Eltern geachtet werden, so viel, so nah und so ungestört wie möglich mit ihrem Kind zusammen zu sein. Eltern sollten von sich aus ihre Wünsche offen äußern, dann wird meist so weit wie möglich darauf eingegangen. Wenn sie nichts sagen, wird die Situation in vielen Kliniken nach den dort üblichen Vorstellungen gehandhabt.
Eine Familie, deren Kind nach Hause entlassen wird, um dort zu sterben, wird normalerweise durch die örtliche Gemeindestation, einen ambulanten Hospizdienst oder eine ähnliche Einrichtung unterstützt. In Deutschland gibt es ein gut ausgebautes Netz häuslicher Kinderkrankenpflege, insbesondere in Städten. Wenn ich es vorher weiß, dann vermittle ich an eine Beratungsstelle oder an Fachleute vor Ort.
Wie stehen Sie zu einer Hausgeburt, wenn vor der Geburt feststeht, dass ein Kind nicht leben kann?
Für viele Krankheiten braucht es selbstverständlich die Hilfe der Klinik. Für ein Kind, das stirbt, kann die Klinik aber nicht mehr bieten als Wärme, Geborgenheit und Schmerzlinderung, wenn nötig. Man kann auch etwas Nahrung anbieten. Dies alles ist zu Hause ebenso gut möglich. Wenn die Diagnose klar gezeigt hat, dass dieses Kind nicht zum Weiterleben auf die Welt gekommen ist, versäumt man zu Hause nichts. Man sollte nicht glauben, dass man es besser machen kann, wenn man viele Maßnahmen ergreift. Auch in der Klinik muss dieses Kind sterben. Falls pflegerische Maßnahmen für das Kind notwendig werden, ist es wichtig, eine Kinderkrankenschwester einer ambulanten Pflegeeinrichtung hinzuzuziehen.
Ist normalerweise auch eine Ärztin oder ein Arzt dabei, wenn das Kind stirbt?
Ärztliche Hilfe ist vor allem bei Fragen der Schmerzbehandlung wichtig. Dies können gute Kinderärztinnen und -ärzte, die sich mit Neugeborenen auskennen, gegebenenfalls auch zu Hause leisten. Klinikärztinnen und -ärzte treffen gemeinsam mit den Eltern und dem Team, das für das Kind zuständig ist, die Entscheidung, dass eine Therapie eingestellt wird, falls es keine Lebensaussichten hat. Sie sind an den Elterngesprächen beteiligt, sie kommen regelmäßig auf die Station. Auch nachdem das Kind gestorben ist, kommt eine Ärztin oder ein Arzt zum Gespräch. Aber die dauerhafte Begleitung liegt auch in der Klinik in der Hand der Schwestern, eventuell mit seelsorgerischer oder fachärztlicher Unterstützung im Hintergrund. Viele denken, Ärztinnen oder Ärzte sitzen vier oder fünf Stunden mit bei dem sterbenden Kind – so ist es normalerweise nicht.
Wie wird ein sterbendes Kind nach der Geburt versorgt?
Wenn klar ist, das Kind wird unmittelbar nach der Geburt sterben, dann müssen die betreuenden Hebammen pflegerisch nichts Besonderes tun. Ich würde die Eltern ermutigen, dass sie ihr Kind wärmen, streicheln, zärtlich mit ihm sind, es im Arm halten. Wenn sie es wünschen, können sie es auf die Brust legen und ihm so Ruhe und Frieden geben. Es ist am besten, sich danach zu richten, wie das Kind reagiert. Manchmal lebt ein Kind etwas länger als erwartet. Dann würde ich dem Kind Muttermilch oder Tee anbieten. Wenn das Kind nach der Brust sucht, dann gibt die Mutter ihm etwas zu trinken. Wenn es den Mund schließt, dann respektiert man auch das. Wir versuchen, dem Kind gute und hilfreiche Bedingungen zum Sterben zu schaffen. Natürlich ist es schwer, aber ich muss mir sagen: „Das Kind darf jetzt sterben und ich kann nichts mehr falsch machen und nichts verpassen.“ Das gibt auch eine große Freiheit.
Wodurch können Begleitpersonen Eltern besonders helfen, wenn sie sich von ihrem Kind verabschieden müssen?
Es hilft den Eltern, wenn man selbst keine „Angst vor der Angst“ hat, nicht vor ihren Tränen, einem möglichen Schweigen oder davor, dass einem die Worte fehlen. Gut ist es, immer wieder Alternativen anzubieten: „Hätten Sie es gerne so oder so – oder möchten Sie gerne allein bleiben?“ Man kann die Eltern auch fragen: „Es ist vielleicht ungewohnt für Sie, aber jetzt haben wir noch die Möglichkeit, dass ich Sie mit Ihrem verstorbenen Kind im Arm fotografieren kann.“ Es gibt Eltern, die das nicht möchten, anderen ist es sehr wichtig. In dem Moment, wo ich es mit Liebe mache, wird es von den Eltern richtig verstanden.
Annegret Braun
war gelernte Kinderkrankenschwester und Lehrerin für Kinderkrankenpflege in Zürich. Sie baute eine häusliche Kinderkrankenpflege in Stuttgart auf, studierte Soziale und Pflege-Diakonie und bot als Klinikseelsorgerin über elf Jahre in einer großen neonatologischen Abteilung Müttern und Eltern Begleitung an. Aus diesen Erfahrungen entstand die Initiative für die Einrichtung der PUA-Beratungsstelle zu Pränatalen Untersuchungen und Aufklärung im Diakonischen Werk Württemberg in Stuttgart.